Kreatives Schreiben

Liebe Leserin, lieber Leser,
hier findest Du / finden Sie einige der Kurzgeschichten, die die fünf Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Kreatives Schreiben im Verlaufe des Schuljahres 2004/5 geschrieben haben. Die AG traf sich während beider Halbjahre wöchentlich um Texte zu planen, zu schreiben, vorzutragen und zu diskutieren. Die folgenden Geschichten sind themengebunden; die Sitzungen endeten häufig mit der gemeinsamen Festlegung eines Themas, zu dem die Autoren dann Texte schrieben. Du bist / Sie sind herzlich eingeladen ihnen Deine / Ihre Leseeindrücke zu mailen - die jeweilige Mailadresse steht stets am Ende einer Geschichte.

Viel Spaß!
Dr. Werner Hickel

P.S. Die Autoren haben auch gemeinsam Geschichten geschrieben. Eine davon, "Mord im Schloss", wird zusammen mit Gedichten und weiteren Kurzgeschichten anlässlich der Projekttage im September 2005 als Print-Ausgabe veröffentlicht.

Kurzgeschichten / Autoren
1. Verwirrte Lehrer Ayla Önel
2. Wir sind nicht allein Fabienne Froitzheim
3. Eine Fahrt im Aufzug Thomas Irmer, Fabienne Froitzheim
4. Blitzeinschlag Thorsten Müller
5. Auf dem Flughafen Mariam Sharifi, Ayla Önel
6. Kölner Nachtleben Fabienne Froitzheim
7. IKEA Thomas Irmer, Thorsten Müller
8. Das erste Kapitel eines Romans Fabienne Froitzheim
9. Beerdigung Ayla Önel, Thomas Irmer

Verwirrte Lehrer
Ayla Önel

Ich bleibe wie vom Donner gerührt stehen und starre ihn einige Sekunden lang fassungslos an. Er scheint sich wie in Zeitlupe zu bewegen und ich verfolge voller Horror, wie er auf den Fenstersims klettert. Dabei beäugt er eine altmodische Taschenuhr. Mir wird klar, dass ich ihn sofort von dieser Tat abhalten muss. Ich presche vor, greife mit beiden Händen nach seinen Fußgelenken und halte ihn fest, während er plötzlich alle Gegenstände aus seinen Taschen entleert.
"Um Gottes willen, Mr. Keating, was ist denn los mit ihnen?", rufe ich.
"Keine Zeit, ich muss mich auf die Reise vorbereiten."
"Mr. Keating, wenn sie jetzt in den Tod springen, denken alle, ich hätte sie geschubst."
Er lehnt sich lässig in den Fensterrahmen und dreht seinen Kopf zu mir. Das kann er erstaunlich gut, so lässig im Fensterrahmen stehen, meine ich.
Er schaut mich mit seinen vor Charme sprühenden Augen an.
"Richtig! Vielleicht solltest du auch gleich mitkommen."
Ich starre ihn ungläubig an. Er grinst.
"Du glaubst wohl, ich will sterben, was?"
"Warum sollten sie sonst hier stehen?"
"Habe ich meine Reise noch nicht erwähnt?"
"Meinen sie die in den Tod?"
"Nein."
"Die ins Jenseits?"
"Nein."
"Himmel, Hölle?"
Er hört mir schon nicht mehr zu. Er dreht sich von mir weg. Eigentlich schade.
"Mr. Keating, meine Finger schlafen ein. Steigen sie runter, sonst leide ich später noch an Arthritis oder..."
"Katrin!"
"Ich heiße Katja."
"Sagte ich doch. Heute ist der erste Tag seit neununddreißig Jahren, an dem das Zeitzentrifugium wieder offen ist. Neununddreißig Jahre! Die Verschwörungstheorien um Kennedy? Alles Quatsch. Er ist aus der Toilette im fünften Stock gesprungen - in eine andere Zeit! Der Mann, der im Wagen erschossen wurde? Ein Doubel, alles geplant, um das plötzliche verschwinden Kennedys zu erklären."
Meint er das jetzt ernst? Ja. Nein. Ja? Ihm würde ich alles zutrauen.
"Mr. Keating, meine Finger laufen schon blau an..."
"Seit Jahren beschäftige ich mich nun schon mit den Theorien des Physikers Meilenstein. Er hat dieses Loch in der Zeit in seinen Aufzeichnungen ausführlich beschrieben. Es ist, als ob du das Universum faltest, um schneller von einer Galaxie in die andere zu gelangen, nur halt mit der Zeit. Ich muss aus dieser Höhe springen, um die erforderliche Geschwindigkeit zu erlangen. Marilyn Monroe, ich komme!"
Er schaut mich wieder an, während er seine Schuhe auszieht. Er trägt grüne Socken mit roten Knubbeln dran.
"Ich muss alles Metall entfernen. Die Schuhe haben Metallschnallen. Sonst lande ich nicht in Marilyn Monroes Armen, sondern-"
"Mr. Keating!"
"Ich habe noch siebzehn Sekunden. Irgendwelche letzten Worte?"
"Das fragen sie mich?"
Er zieht einen Packen Papiere aus seinem Anzug. Sie sind mit einer Kordel umschnürt.
"Wenn du mir nicht glaubst, hier sind alle physikalischen Berechnungen."
Ich werfe ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Wer hat denn hier zwei freie Hände? Ich etwa?
"Fünf Sekunden! Lass los!"
"Nein!"
"Lass los!"
Er springt. Sofort beuge ich mich aus dem Fenster. Warte darauf, dass er verschwindet. Aber er trifft hart auf dem Boden auf.

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Wir sind nicht allein
Fabienne Froitzheim

"Mein Name ist Samuel. Samuel Rodin. Ich bin der Milchmann hier in Bournejeaux. Es werden mich wohl auch alle kennen, zumindest flüchtig. Na klar! Jeden Morgen stelle ich vor jede Haustür gute, frische Landmilch.
Ich hatte das Gefühl, einen schönen Beruf zu haben; mit mir und der Natur im Einklang zu leben. Idyllisch. Bis sich etwas veränderte. Ich weiß nicht, wie und warum, aber es tat sich etwas. Ich spürte es. Eine Bedrohung, eine Gefahr - wir waren nicht mehr alleine, nicht mehr unter uns. Fremdkörper.
Anfangs kam ich mir lächerlich vor, wie die psychisch Kranken in den schlechten Horrorfilmen. Aber ich, wir waren wirklich nicht alleine! Seid ehrlich, ihr habt es doch auch gespürt! Bitte! Tiere, immer mehr Tiere! Eichhörnchen! Scharfe Zähne! Drohend gefletschte Lefzen! Kreischen! Organisation, Rudel! Sie planten etwas! Sicherlich. Ich war doch nicht der einzige, der das erkannte? Oder? Nein, waren wir nicht. Wir sind auch nicht verrückt. Eine Gefahr, eine große Gefahr! Die Milchflaschen verschwanden, der Bäcker schloss seinen Laden, meine Milchflaschen, bis heute nicht aufgetaucht. Und nachts, nachts, in den Büschen, dieses schauerliche Geraschel, das habt ihr doch auch gehört! Sicher habt ihr das!
Und es kamen immer mehr. Nachts. Nur Nachts. Sie sind feige. Hütet euch! Ich warnte euch, aber ihr lachtet mich aus, nanntet mich einen Säufer. Mich! Einen Säufer! Und was ist mit meinen Milchflaschen? Ich habe doch alles getan um euch zu schützen?! Ja, das haben wir, das haben wir wirklich. Von uns geht keine Gefahr aus, wir sind gut, wir sind doch Opfer. Alle werden wir geopfert! Ich weiß es, denn ich habe sie belauscht. Sie sprechen unsere Sprache, viele sprechen unsere Sprache. Es sind nämlich gar keine Eichhörnchen. Sie haben sich verkleidet. Und wisst ihr, wer sie wirklich sind? Wollt ihr es wissen? Wollen sie es wissen? Ja, sie wollen es wissen. Es sind Hunde, nein, nicht einfach Hunde, es sind die Rauhhaardackel aus Bournejeaux. Ganz recht. Die Dackel von Frau Jeule, der von Familie Euverte. Und es kommen immer mehr nach Bournejeaux. Sie werden sich rächen! Ihre Rache wird fürchterlich sein! Sie werden humwa - hullwm - ab hier kann ich nicht mehr lesen, der hatte wohl schon zuviel getrunken", rief die Gestalt, die wohl der Anführer der schwer bewaffneten Truppe war, die die Dorfbewohner von Bournejeuax in Schach hielt. "Haha. Viel mussten wir ja nicht mehr tun als wir ihn endlich wiedergefunden hatten, der war eh schon halb tot. Ein Hoch auf den Alkohol! Na ihr, auch noch ein Gläschen? Haha. Na los, knallt sie endlich ab! Ich kann diese verängstigten Gesichter nicht mehr sehen!"
Ein Hamster.

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Eine Fahrt im Aufzug
Thomas Irmer
Fabienne Froitzheim

Text Thomas Irmer
Mittlerweile ist es wohl Abend. Ich weiß es nicht genau, denn meine Uhr ist stehen geblieben. Das muss so etwa eine Stunde her sein, auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Mir kommt alles vor, als dauerte es schon ewig. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Seit heute Morgen sitze ich hier fest. Niemand hört mich oder fragt sich, warum der Aufzug nicht mehr fährt. Die gehen ja eh alle zu Fuß. Alles junge Leute Mitte zwanzig. Die meisten Studenten, die morgens erst mal ne Stunde joggen gehen. Außer Frau Bremer. Aber die ist vorletzte Woche gestorben. War ne ganz nette Nachbarin. Hat mir öfter mal Pralinen geschenkt, weil ich ihr morgens vom Kiosk die Zeitung geholt hab. Jetzt vegetiere ich hier schon seit fast neun Stunden. Ich schwitze. Ich habe aufgehört nach Hilfe zu rufen. Das kostet Kraft und Sauerstoff. Wenn sich nicht bald was ändert, dann ist vom Sauerstoff in wenigen Stunden nichts mehr übrig. Selbst das Nichtstun kostet mich erstaunlich viel Anstrengung. Auch meine Finger schmerzen, weil ich versucht hatte, die Türen aufzustemmen. Anfangs dachte ich: Na gut. Ruf ich halt über die Sprechanlage den Notdienst an. Aber glauben sie die tut's noch...? Natürlich nicht. Wieso auch? Wenn jemand anders in diesem verdammten Aufzug festsitzen würde, dann würde sie funktionieren! Aber kein Problem: Wofür hat der moderne Mann ein Handy? Aber wieso sollte es heute und hier funktionieren? Wieso? Kein Empfang. Ich möchte anmerken, dass ich in diesem Aufzug schon öfters mit meinem Handy telefoniert habe. Aber heute? Nein. Es will einfach nicht. Und zwar so lange, bis der Akku seinen Geist aufgegeben hat. Und das schon nach 3 Stunden. Also bleibt diese Frage wohl ungeklärt. Gegenfrage: Wieso sollte es nicht funktionieren? Wieso nicht? Sonst klappt's doch auch. Wieso nicht heute? Ganz einfach: Weil an diesem Tag, an dem zufälliger Weise niemand den Aufzug benutzt, ich genau darin festsitze. Und warum muss es gerade mich treffen? Und wieso genau heute? Die Antwort auf diese Frage ist auch schnell geklärt: Weil ich heute beim Chef zum Gespräch eingeladen bin, um mit ihm über meine Beförderung zum Abteilungsleiter zu sprechen. Er meinte ich hätte es verdient, nachdem ich die Fusion mit Nakajuma in die Wege geleitet hatte. Das hatte die dortigen Arbeiter zwar ihren Arbeitsplatz gekostet. Hat in unserer Firma aber dreihundert Arbeitsplätze gesichert Laut Anzeige hängt der Fahrstuhl zwischen dem achten Und neunten Stockwerk fest. Ich wohne in der zehnten Etage. Ganz oben. Ist ganz schön hoch von dort. Und viel näher am Boden ist der neunte Stock auch nicht gerade.
In meiner kleinen Kabine wird die Luft immer dicker und ich merke, wie meine Bewegungen immer träger werden. Auch beim Lesen wird es schwer. Auf einem kleinen weißen Schild hinter mir steht - ich kann es grad noch lesen:

Baujahr 1965
Max. 6 Personen
Oder 800kg

Ich fahre seit zwölf Jahren - solange wohne ich schon in diesem Haus - mit diesem Aufzug. Das kleine weiße Schild habe ich schon hundert, ach tausend mal gelesen, doch nie hat es mich so beunruhigt wie jetzt. 1965...?
Mir fällt der Film ein, den ich letztes Wochenende gesehen habe. Darin saßen einige Personen in einem Aufzug fest und retten sich durch eine Notausstiegsklappe. Aber raten sie mal, was dieser fast vierzig Jahre alte Mistaufzug nicht hat... ganz genau, eine Notausstiegsklappe! Und was macht mein Chef wohl gerade? Keine Ahnung. Aber ich weiß, was er nicht tut: Sich Sorgen um mich machen. Garantiert nicht. Wieso auch?
Und ich kann ihnen sagen, wer sich auch keine Sorgen macht: Meine Frau, meine Tochter und mein Sohn. Die sind nämlich völlig sorglos seit gestern auf Grand Canaria. Ich hab ihnen gesagt sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen, auch wenn ich mal nicht ans Telefon gehe. Sie wollten ja eh nur vier Tage dort bleiben. Aber was hätte ich auch anderes sagen sollen: Kinder, wenn ich nicht ans Telefon gehe, dann setzt bitte alles daran, das jemand in unserem Aufzug nachschaut, ob ich dort vielleicht festsitze...!? Und selbst wenn sie sich Sorgen machen würden. Es würde noch mindestens vierundzwanzig Stunden dauern, bis sie hier wären. Und bis dahin bin ich erstickt. Moment mal. Bis dahin bin ich erstickt! Verdammt! Soll das heißen, das meine Lebenskerze schon fast abgebrannt ist. Ich werde sterben. Was soll ich nur tun? Soll ich weiter um Hilfe rufen? Das verkürzt meine Lebenszeit dann so um... vielleicht 10 Minuten pro Ruf. Oh mein Gott... Es ist, als würde ich mit jedem Ruf auf eine Sanduhr klopfen, damit der Sand schneller rieselt. Wie viele Sandkörner hab ich wohl noch...?
Ich fürchte, es gibt berechtigte Gründe zu ernsthaften Sorgen. Aber was hab ich von Sorgen? Ich kann mir noch so viele Sorgen machen. Wenn mir nichts Gescheites einfällt, werde ich ziemlich besorgt sterben. Vielleicht sollte ich noch einen Abschiedsbrief für meine Frau und meine zwei Kinder schreiben. Ach du Backe. Ich habe meinen Aktenkoffer gar nicht dabei. Wieso fällt mir das jetzt erst auf? Und warum muss mir gerade jetzt einfallen, dass in meinem Aktenkoffer noch ein Schraubenzieher ist, den ich für gewöhnlich benutze, wenn in meinem Büro mein Drehstuhl eine Schraube verliert?
Ich sollte aufhören mir solche Fragen zu stellen... Huch. Was war das? Der Aufzug setzt sich in Bewegung. Er fährt wieder. Nein. Das kann nicht sein. Das gibt es nicht. Der Aufzug setzt sich in Bewegung und bringt mich in Sicherheit. Wahnsinn. Das ist ja super. Ich werde meine Frau wieder sehen, meine Kinder. Ich werde vielleicht doch befördert. Wow. Ich bin gerettet!
Unten angekommen öffnen sich die Türen des Aufzugs. Zwei Männer stehen davor. Beide in schwarz. Sie sagen gleichzeitig: "Das ist für die Fusion, du Dreckssack!"
Dann schlagen sie zu.
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Text Fabienne Froitzheim:
Ich renne verwirrt durch die Gänge eines großen Gebäudes. Hier ist was, aber was ist es und was will es? Wasser läuft, viel Wasser. Aus mir heraus und um mich herum. Kann Wasser eigentlich laufen? Haha. Schlecht. Egal. Ich würge. Hektik - muß den Aufzug noch erreichen. Wasser. Wieder Wasser. Und ein lautes Schnauben. Hilfe! Ich pralle gegen Wände. Glatte Wände. Messerklingen. Gefährlich. Dabei bin ich doch so müde...
Da! Die Tür mit dem rot leuchtenden Anzeigetäfelchen. Rote, kleine Stäbe. Stiefelabsatzklackern. Nicht von mir, ich mag diese Dinger nicht. Schreien. Verdammt. Das hätte ich nicht tun sollen. Das Licht geht aus. Ich sehe nichts mehr. War ich das? Bitte nicht. Und überhaupt . wo sind die anderen? Ich war doch nicht alleine, eben, oder? Irres Lachen. Nicht mehr unter Kontrolle, zitter, stütze mich ab. Meine Hand blutet. Weiter! Weiter! Der Aufzug wartet nicht! Viel zu viele Gänge. Sie drehen sich. Rotationsprinzip. Warum nur bin ich nicht bei den anderen geblieben? Weil sie versucht haben, mich aufzuschneiden? Das ist doch kein Grund! Das rote Licht ist verschwunden. Gar keine Orientierung mehr. Meine Beine zittern.
"Raus hier! Gleich fliegt die ganze Bude in die Luft!"
Fast nicht zu verstehen, da das monotone Ticken des Gegenstandes ,der in meiner Hand liegt, lauter ist.
"Sie haben keine Chance!"
Ich habe keine Chance. Verloren. Das Ticken wird schneller, lauter.
"Raus, alle!"
Ich habe verloren.
"Schnell"
Für immer.

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Blitzeinschlag
Thorsten Müller

"Es lebt! Igor, es lebt!"
Dr. Krankenstein jubelt und hüpft in seinem Labor auf und ab.
"Igor, wir haben es geschafft. Wir haben es tatsächlich geschafft."
"Ja, Meister! Sie sind der Größte", sagt der kleine Gehilfe und hüpft mit dem Professor durch das Labor.
"Wenn das meine Kollegen von der Uni mitbekommen, werden sie mich nicht mehr auslachen. Jahrelang habe ich mir anhören müssen, dass es unmöglich sei, aber ich habe es geschafft. Mit Hilfe eines Blitzes habe ich genug Energie erzeugt, um es zum Leben zu erwecken.
"Aber Meister, warum mussten wir unser Labor denn in einem Schloss errichten, wenn es eine normale Wohnung in der Innenstadt auch getan hätte?"
"Weil es so viel mehr Atmosphäre hat, Igor. Und hör auf, mich immer Meister zu nennen. Nur, weil ich die Uni geschafft habe und du nicht, bin ich noch lange nicht dein Meister."
"In Ordnung, Meis... Ich meine: In Ordnung, Frank."
"Schon besser, Igor."
Das Schloss liegt abgelegen in einem Wald inmitten von Transsilvanien. Es ist groß und hat viele Türme und einem großen Burggraben.
"Es ist hier über den Winter hinweg nahezu den ganzen Tag dunkel und oft gewittert es. Fast wie in einem Horrorfilm, Frank. Ich wäre jetzt lieber in der Stadt und hätte einen Fernseher und einen schönen großen, prall gefüllten Kühlschrank. Aber stattdessen sitzen wir hier in einem Schloss im Ausland, wo uns niemand versteht und basteln hier an deinem Experiment rum."
"Es ist mehr als nur ein Experiment. Es ist ein wissenschaftlicher Durchbruch!"
"Es soll ein wissenschaftlicher Durchbruch sein, eine nahezu tote Pflanze wiederzubeleben? Das haben Botaniker schon seit langer Zeit herausgefunden!"
"Ehrlich, Igor?"
"Ja."
"Wieso hast du mir das nie gesagt?"
"Du hast nie gefragt."
"Aber du hättest mich darauf aufmerksam machen können, dass ich zwei Jahre an einem Projekt gearbeitet habe, dass es schon lange gibt! Deswegen haben mich auf der Uni alle ausgelacht!"
"Scheint ganz so."
"Igor, pack deine Sachen, wir fahren nach Hause!"
"Jawohl, Meister."
"Hör auf mit dem ‚Meister´!"

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Auf dem Flughafen
Mariam Sharifi
Ayla Önel

Text Mariam Sharifi:
Es ist kalt hier im Flughafen. Draußen wirkt der Himmel so, als ob er meine Trauer teilen möchte. Die Menschen gehen an mir vorbei. Gestresst, mürrisch, verschlafen…
Es hat mich immer noch fest im Bann. Dieser Schock… die Erinnerung. Ich hätte nie gedacht, dass es so schnell passieren würde. Meine dreiundsechzigjährige Mutter ist bei einem Flugzeugunglück nahe des Flughafens umgekommen. Ich saß auch in der Maschine.
Ein technischer Fehler. Nun, so was soll vorkommen. Ich meine, es fliegen doch so viele Flugzeuge, da wird man halt etwas ungenauer beim Check.
Ich habe meine Mutter seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Ich wollte die Chance nutzen, mich mit ihr zu versöhnen. Denn meine kleine Amy sollte auch mal ihre Oma sehen. Verdammt soll meine Mutter sein! Doch ich bereue es. Letztlich kann sie ja nichts dafür.
Ich gehe und setze mich in ein Café. Die Verwaltung hatte mich angerufen, denn sie haben das Wrack untersucht und ein paar Handtaschen bergen können. Aus dem Fenster sehe ich, wie der Schnee mit dem Wind segelt. Und schon wieder sehe ich diese schrecklichen Bilder vor mir.
Keine klare Sicht mehr. Die Passagiere wurden gebeten ruhig zu bleiben. Das Flugzeug flog steil nach unten, nachdem die Steuerung nicht mehr funktionierte. Und dann die Schreie… Es saß ein kleines Kind neben mir. Ein Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt. Wir hatten uns den ganzen Flug lang unterhalten. Ich kannte sie irgendwie, aber ich weiß nicht woher. Es lässt mich einfach nicht los. Doch auch sie starb.
Es ging alles viel zu schnell und dennoch kam es mir so vor, als ob es Stunden gedauert hätte, bis der Aufprall kam. Plötzlich war es still. Die Schreie ließen nach. Ich hörte nur noch einzelne Menschen weinen und aus der Ferne das Geheule der Rettungswagen.
Es wurden nicht viele gerettet. Dreiundzwanzig von zweihundertelf.
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich folge dem Arm hinauf zum Gesicht und sehe, dass es eine Stewardess ist. Sie schaut mich etwas länger als nötig an, um mich zu erkennen und sagt dann: "Guten Morgen, Frau Golenia. Es tut mir leid, dass ich sie wieder stören muss, aber wir haben noch etwas in den Resten des Flugzeugs gefunden. Könnten sie vielleicht bitte mitkommen?"
Ich bin verwundert. Ich habe nichts auf meinem Sitz gelassen. Auch meine Mutter nicht.
Ich folge ihr in ein kleines, muffiges Büro. Es hängen Bilder von Flugzeugen an den Wänden. In der hinteren Ecke sieht man rauchende Angestellte. Doch die Stewardess geht in ein kleines Nebenzimmer, in dem ein großer Schreibtisch aus Eiche und ein typischer Chefsessel stehen. Für Besucher gibt es einen blauen Stuhl. Auf dem Chefsessel sitzt ein kleiner Mann. Dicke schwarze Brille, durchgekämmter Schnurrbart. "Es tut mir sehr leid, was passiert ist… Wir haben noch etwas gefunden, was in der Nähe ihrer Sitzreihe lag. Können sie mir bitte sagen, ob sie das wieder erkennen?"
Er streckt mir eine kleine Plastiktüte entgegen, die im dumpfen Licht funkelt. Ich nehme sie an mich und hole den Inhalt behutsam heraus. Es ist ein kleines goldenes Medaillon, mit einem blauen Saphir in der Mitte. Der Stein ist so fein geschliffen, dass er das Licht in unzählige Spektralfarben zerstreute.
Ich betrachte lange das Medaillon.
"Erkennen sie es wieder?", fragt die Stewardess vorsichtig. "Wir haben es aufgemacht und anhand des Bildes vermutet, dass es ihnen gehören kann."
Hektisch mache ich das Medaillon auf. Das kann einfach nicht sein. Ich muss zuerst meine Tränen wegwischen, bevor ich mir das Foto ansehen kann. Doch es ist wahr. Tränen treten mir in die Augen. Ich kenne dieses Foto. Ich bin die Frau, die mit einem kleinen Kind im Arm da abgebildet ist. Das Foto ist fünf Jahre alt. Ich dachte, dass ich es nie mehr sehen werde. Auf der Innenseite des Deckels steht geschrieben:

An meine kleine Mary

Ich breche zusammen und weine den ganzen Schmerz heraus, den ich seit Jahren unterdrückt habe. Mary war das kleine Mädchen neben mir im Flugzeug! Und meine Tochter, die ich vor fünf Jahren ins Waisenhaus abgegeben habe…

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Text Ayla Önel:
"Möchten sie vielleicht eine Tasse Kaffee oder Tee?"
Ich hasse meinen Job. Dieser dicke schmierige Typ mit seinem Laptop wird jetzt erst mal so ungefähr zehn Stunden lang herumdrucksen, um dann zu sagen, dass er nichts möchte. Aber sobald ich mich umdrehe, wird er einen Tee bestellen.
"Äh...ich weiß nicht so recht..."
Mein Gott! Können sich die Leute heutzutage etwa nicht mehr entscheiden? Zu viel Geld macht anscheinend doch dumm.
"Nein, ich denke ich bestelle erst einmal nichts. Danke."
O.K. Ich bewege mich mit dem klappernden Wagen vorwärts.
Drei...zwei...eins...
"Moment, könnten sie vielleicht noch einmal kommen? Einen Kaffee bitte. Schwarz mit dreieinhalb Löffeln Zucker."
Ich schleiche rückwärts, setze dieses unechte Lächeln auf und gebe ihm einen grünen Becher mit Kaffee und vier Päckchen Zucker.
Ich hasse meinen Job. Diesen viel zu kurzen dunkelblauen Rock und die viel zu enge, fast durchsichtige weiße Bluse. Aber am meisten diese bescheuerte hellblaue Weste mit den Wattewölkchen drauf.
"Ein weiches Kissen und einen Tee bitte."
Noch so eine aus der first class, die meint, dass dort die besseren Leute sitzen und man sich mit einer unheilbaren Krankheit ansteckt, wenn man sich in die economy class setzt.
"Wir haben eine große Auswahl der verschiedensten Teesorten: Hagebutte, Pfefferminz, Earl Grey..."
"Einen Earl Grey ohne Zucker."
Ich setze wieder meine Maske auf und schenke ein. Wahrscheinlich ist dass das einzige was ich kann. Einschenken und das Gesicht verziehen.
"Das Kissen bringe ich sofort."
"Ein weiches!"
Ne, wissen sie, wir haben nur Kissen, die hart wie Drahtbürsten sind. Aber keine Sorge, für die erste Klasse haben wir natürlich auch besonders kratzige... vorne in der ersten Reihe sind ja auch die kuschelweichen Fakirflugzeugsitze.
Ich schiebe den Wagen an seinen Platz und hole das Kissen. Die Frau untersucht es auf seine Weichheit, als ob sie ausgebildete Kissenprüferin wäre. Schließlich gibt sie sich damit zufrieden und legt es unter ihren Kopf. Sie schließt die Augen. Der Tee ist unberührt. Ich schiebe ihn ganz nah an den Rand von ihrem Tablett.
Eine halbe Stunde später kommt die Durchsage des Piloten: "In wenigen Minuten setzen wir zum Landeflug an. Richten sie bitte ihre Sessel auf und klappen sie ihre Tische hoch. Herzlich Willkommen in Deutschland."
Immer wenn ich hier wegfliege, habe ich das Gefühl, dass ich trotzdem nicht wegkomme. Irgendwann gibt es immer den Flug zurück. Das ist das letzte Flugzeug, dass landet. Es schneit. Nach uns wird der Flugverkehr eingestellt. Start und Landung sind bei Schnee einfach zu gefährlich. Die anderen Flugzeuge werden umgeleitet, landen woanders, oder fliegen erst gar nicht los.
Ich streife durch die Reihen und klappe die Tische bei denen hoch, die dafür zu faul sind. Die Frau schläft immer noch. Ich wecke sie nicht. Es ist 7.30 Uhr. Ich setzte mich auf meinen Platz und beobachte die Leute. Die meisten sind nur auf dem Weg von einem Meeting zum nächsten. Ein Junge mit kurzem Haar und braunen Augen scheint der einzige zu sein, der es hier genauso bescheuert findet wie ich. Er liest Salinger und trägt nur schwarz. Das Buch sieht genauso zerfleddert aus wie er. Er grinst mich an und ich lächle zurück.
"Vielen Dank, dass sie mit Lufthansa geflogen sind."
Ich stehe am Ausgang des Flugzeuges und spule den Satz wie ein Zombie ab. Wäre es denn so schlimm, mal was anderes zu sagen? Ich hoffe sie fliegen nie wieder mit dieser Maschine, denn ich hab echt keine Lust, ihren fetten Bonzenhintern hier noch mal zu sehen.
Erst wenn alle raus sind, kann ich meine Sachen holen. Der Kapitän verlässt als letzter das sinkende Schiff. Ich trete aus dem Flieger und atme die kalte Luft ein. Es tut gut. Ich zupfe meine Uniform zurecht und stolpere die Treppe runter. An die Schuhe hab ich mich immer noch nicht gewöhnt. Mit dem Absatz könnte ich glatt jemanden aufspießen. Ich ziehe etliche Klammern aus meinen Haaren. Sie flattern im Wind.
Es ist 8.20 Uhr. Mein Gott, hier sieht´s aus wie aufm Nordpol.
Ich betrete das Terminal und bahne mir den Weg zum Haupteingang. Von dort ist es näher nach Hause.
Alle Flüge aufgrund von widrigen Witterungsverhältnissen gestrichen. Boah, ich hasse solche Durchsagen. Immer wenn ich Schicht habe, passiert so was. Aber ich sollte dankbar sein, dass wir noch landen konnten.
Mist, bei dem Wetter komme ich niemals nach Hause. Mein Wagen ist total eingeschneit und die Straßen vereist. Schon zu Fuß schlittere ich über die Straße. Also zurück ins Terminal. Erst mal einen Kaffee. Hier gibt es ungefähr einhundertelf Cafés und Imbissbuden, aber überall schmeckt der Kaffee gleich schlecht. Ich setze mich etwas abseits auf eine schwarze Bank und breite meine Sachen links und rechts von mir so aus, dass sich unmöglich noch jemand zu mir setzen kann.
Gut, dass ich immer eine Thermoskanne mit ordentlichem Kaffee dabeihabe. Auch der im Flugzeug schmeckt widerlich. Ich meine, ich könnte diese Kanne jetzt mit einem Liter Wasser verdünnen und im Flugzeug verteilen. Keiner würde was merken.
Ich hole ein Buch raus. "Veronika beschließt zu sterben" von Paulo Coelho. Am Anfang dachte ich noch, wie kann dieses Mädchen nur auf die Idee kommen, sich umzubringen? Sie ist hübsch, intelligent, hat einen Beruf und viele Männer. Doch dann wird alles so plausibel erklärt, dass ich wirklich dachte, ja, warum eigentlich nicht? Alles ist für sie gleich. Jeder Tag. Sie kommt keinen Schritt weiter, doch nicht nur ihr Arbeitsalltag ist eintönig, auch ihre Gefühlswelt. Sie empfindet nie richtige Wut oder Hass, aber auch nicht richtige Liebe. Erst als sie in der Psychiatrie gelandet ist, lernt sie das Leben zu genießen. Ich sollte mein Leben auch mehr genießen. Immer wenn ich hier wegfliege - nach Ägypten, Indien, Frankreich oder Spanien - habe ich kein Gefühl der Freiheit, sondern ein Gefühl der Kontrolle. An einem bestimmten Tag muss ich wieder zurück. Da kann ich nichts machen. Ich komme hier einfach nicht weg. Ich habe schon oft überlegt, ob ich den Beruf wechseln soll. Aber noch mal eine Ausbildung machen? Oder sogar studieren? Auf ein sicheres Einkommen verzichten?
Es schneit immer noch. Jetzt kann ich das aber irgendwie genießen. Zuhause wartet eh niemand. Es fällt überhaupt nicht auf, wenn ich nicht da bin. Ich könnte sogar hier leben! Oh, mein Gott, doch lieber nicht!
"Kann ich mich hier hinsetzen?"
"Nein! Sie sehen doch, dass hier besetzt ist."
So ein Blödmann. Ich mag es nicht, wenn sich jemand so nah neben mich setzen will. Das kann ich echt nicht haben.
Langsam wird es immer voller. Ein paar meiner Kolleginnen verteilen Gutscheine für warme Getränke und Decken für kleine Kinder, die frieren. Ich friere auch.
Das ist doch paradox. So nett, wie wir im Flugzeug sein müssen, so nett ist doch im wirklichen Leben niemand! Man muss immer so tun, als wäre es für einen das größte Glück, Kaffee einzuschenken und Kissen auszuteilen. Wir müssen noch mehr grinsen als diese Gestörten, die bei den Schönheitswettbewerben mitmachen. Wenn uns jemand fragen würde - würde wohlgemerkt - müssten wir antworten: Mir ist es noch nie besser gegangen. O.k., ich wurde zwar aus meiner Wohnung geworfen, meine Oma ist gestorben und ich bin total pleite, aber das ist doch kein Grund zu meckern! Viel schlimmer ist es doch, wenn ihr Kissen nicht weich genug ist oder der Kaffee zu stark!
Ich glaube, dass hier jeder - wirklich jeder - irgendein richtig dickes Problem hat. Wenn der verdammte Schnee aufhört, gehe ich nach Hause und mache was Verrücktes. Echt, ich schaffe mir eine Katze an, die immer laut miaut und traurig ist, wenn ich nicht da bin. Außerdem sage ich allen, dass ich es mir mit meinem Namen anders überlegt habe.
Sie sollen mich nicht mehr Vera nennen, sonder Veronika. Als die herausfindet, dass sie nur noch vierundzwanzig Stunden zu leben hat, will sie eine Burg besichtigen und da sterben, weil sie in all den Jahren noch nie auf einer Burg gewesen ist. Soll mir das was sagen?
"Ist hier noch frei?" Der Junge mit dem Buch und den weißen Turnschuhen aus meinem Flieger. Ich schaue ihn einige Sekunden lang an.
"Ja."

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Kölner Nachtleben
Fabienne Froitzheim

Siehst du den Mann da vorne? Den Mann, der seine Hand schüchtern über das Dekolleté seiner Begleiterin fahren lässt? Sie tanzen. Miteinander. Gegen den Lärm der zu vollen Kneipe. Alleine.
Und - siehst du den, der vor dem Busfahrplan steht, nervös, panisch um sich schauend? Der glimmende Joint in der rechten Hand. Mitten in der Stadt und doch nicht da.
Was ist mit der Frau, die am Fenster des Busses sitzt? Sie ist alleine, alleine bis das Auto voller junger Männer ankommt. Es ist kalt, aber sie drehen die Fenster herunter, schreien, hupen, starren. Sie lächelt und dreht ihren Kopf weg. Die Ampel schaltet um auf Grün.
U-Bahn Station Rudolfplatz. Ein sitzender Mann. Verbundene Hand. Schlampig. Vor einer Spiegelwand. Zu kalt. Zu kahl. Zu alleine. Zu blass. Weißer Schaum an den Fingerspitzen der verletzten Hand. Der Kopf: zurückgelegt. Abgesunken. Zusammengesunken. Die Augen, geschlossen. Im Spiegel. Der Mund geöffnet, weißer Schaum. Wohl abgewischt bis er nicht mehr konnte, bis er leichenblass wurde.
Alleingelassen, achtlos beiseite geworfen, ignoriert. Versunken im strudelnden Trubel der Großstadt.
Wo bist du? Ich sehe dich nicht.

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IKEA
Thomas Irmer
Thorsten Müller

Text Thomas Irmer:
An einem herrlich warmen Sommermorgen erwacht irgendwo in einer Kölner Wohnung eine rundum zufriedene Familienmutter - rundum zufrieden? Wäre da doch nicht dieses schnarchende Wesen neben ihr und... und die leere Ecke im hinteren Teil des Schlafzimmers. Nun gut, sie ist nicht leer. Es stapeln sich tonnenweise Wäscheberge und Bücherstapel, die eigentlich in einen angemessenen Schrank gehören. Apropos angemessener Schrank. Einen Meter neben diesem unbebauten Stück Wohnung liegen die Rohbauteile des IKEA-Billy-Regals, das eigentlich schon seit drei Tagen aufgebaut sein sollte. Aber wie Männer nun mal sind - dumm, faul und gefräßig - hat es das schnarchende Wesen vorgezogen das Wetter auszunutzen und Gartenarbeit zu machen. Gartenarbeit... das heißt soviel wie: Liegestühle rausholen, Liegekissen drauflegen und zwölf Stunden täglich die Bequemlichkeit testen. Aber nun weiter im Tagesablauf.
Die zwei Kinder, die da unüberhörbar das Frühstück anrichten, in allen Ehren, aber müssten die nicht langsam gemerkt haben, dass die Küchentür von alleine zufällt, wenn man sie nicht festhält? Rumms! Hmm. Scheinbar nicht.
Jetzt erst mal auf Toilette, das morgendliche Geschäft erledigen.
Gleichzeitig grummelt sich der rundum zufriedene Familienvater aus dem erholsamen Schlaf - rundum zufrieden? Wäre da nicht die reizende Ehefrau, die im Badezimmer um ihr Leben schreit, weil sie von einer Fliege bedroht wird.
"Hilfeee! Schatz, komm her. Hier ist so ein riesiges Viech."
Noch gar nicht richtig aufgewacht und auf Grund des hellen Lichteinfalls ziemlich orientierungslos, torkelt der stolze Vater der Kinder, die irgendwie unfähig sind eine Küchentür festzuhalten, über den eiskalten Marmorboden in Richtung Badezimmer. Seine Frau steht neben der Toilette und ruft verängstigt: "Hinter dir, pass auf!"
Im Halbschlaf dreht er sich um und starrt auf die grüngeflieste Wand.
"Unten. An deinen Füßen!"
Langsam senkt sich sein Kopf und plötzlich schauen sich ein zwei Meter großer Mann und eine zwei Zentimeter kleine Spinne tief in die Augen. Die Spinne versucht blitzschnell in Richtung der offenen Badezimmertür zu entkommen, der Familienvater lässt seinen Fuß hinuntersausen. Rumms. Knack. Knirsch. Schade. Verfehlt. Aber was war das für ein Knacken?
"Schatz, hast du dir wehgetan?"
"Geht schon. Aber ich glaube, ich habe deine zweite Kontaktlinse gefunden."
Dreieinhalb Stunden später und gut gesättigt von den viel zu weich gekochten Eiern und steinharten Brötchen wird der Familienvater dazu verdonnert ein IKEA-Regal aufzubauen - bei nunmehr 32°Celsius Innentemperatur.
"Aber Schatz. Es ist so heiß. Außerdem habe ich mir vorhin wohl doch den Fuß verstaucht, als die Spinne..."
Er weiß, dass er keine Chance hat. Ziemlich ratlos steht er vor einem Haufen Bretter, zwei Tüten mit allerlei Schrauben, die er nie zuvor gesehen hat, und einem winzigen Zettel, auf den in drei Millimeter großer Schrift irgendwelche Zeilen stehen und daneben eine Abbildung des Schranks, wie er beim Kauf nicht ausgesehen hatte. Seine Frau gibt ihm einen Kuss und verabschiedet sich mit den Kindern zum Besuch bei der Oma.
Am Abend des selbigen Tages kommen die drei gut gelaunt und voller Elan von dem lustigen Besuch bei der Oma zur Haustür hereingetrudelt und wollen unbedingt das tolle neue Regal von IKEA besichtigen. Mama geht vor, während sich die Kinder im Wohnzimmer angeregt unterhalten. Kurz darauf kommt sie wieder und steht fassungslos im Türrahmen.
"Was ist los? Sieht es nicht gut aus?"
"Seht selbst!"
Verunsichert und mit größter Vorsicht, nähern sich die zwei dem Schlafzimmer. Sie öffnen langsam die Tür, nur einen Spalt breit, als wäre eine Gefahr dahinter. Ihnen bietet sich ein abstruses Bild: Auf dem Bett liegen stapelweise Bretter und darüber verteilt Schrauben, Muttern, Schraubenzieher, Bohrmaschinen und Bohraufsätze in allen erdenklichen Größen. Neben dem liegen Sägespäne, Holzstückchen, mal länglich, mal... nun ja... ausgefranst oder wie abgehackt. Dann sind da noch Klemmen, Kabeltrommeln und Schutzbrillen. An der Wand steht ein Brett, an das zwei kleinere Bretter angeschraubt sind - das eine irgendwie länger als das andere. Das Ganze sieht aus wie ein auf die Seite gestellter Tisch aus den Anfängen der Menschheit. Darunter sitzt ein eingeknicktes Wesen, schweißüberstömt, mit Sägespänen in den Haaren und auffallend flacher Atmung.
"Aber Schatz, was hat denn nicht geklappt?", fragt die Familienmutter mitfühlend.
"WAS NICHT GEKLAPPT HAT?"
Die folgende Schimpfkanonade soll hier mit Rücksicht auf jugendliche Leser nicht wiedergegeben werden. Man stelle sich einfach einen Professor vor, der sein Leben lang an einem Projekt gearbeitet hat, dass die Welt verändern sollte, und der im letzten Moment vor der Veröffentlichung gesagt bekommt: ´Ähm... Chef? Den lasergesteuerten Nasenhaarschneider, den sie da entwickelt haben, gibt es schon längst.´
Vorsichtig fragt die Hausherrin: "Du weißt, dass der Rest vom Schrank noch im Keller steht?"
Augenblicklich entspannt sich die Mine des Mannes. Er steht auf, klopft sich die Späne von der zerfledderten Hose und sagt mit einem entrückten Lächeln: "Ich mach Gartenarbeit."

Ikea - wohnst du schon oder schraubst du noch?

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Text Thorsten Müller:
"Igor, dieses Mal werden wir nicht versagen."
"Sicher nicht, Meister."
Erneut befinden sich Dr. Frank Krankenstein und sein Freund Igor im Keller des Schlosses in Transsilvanien.
"Igor, denk immer daran: Wir werden bald stinkreich sein, wenn unser Projekt erfolgreich ist."
"Natürlich Meister. Und von dem Geld werden wir neue sinnlose Versuche vornehmen können..." Igor seufzt und setzt sich in eine der dunklen Ecken des großen Laborraumes.
"Projekt IKEA wird mein größter Erfolg werden, Igor!"
"Projekt IKEA wird ihr ERSTER Erfolg sein, Meister."
"Verdammt Igor, musstest du mich daran erinnern?"
Einige übergroße, vollkommen unmoderne Computer, Fackeln anstatt Lampen, Torbögen anstatt Türen und Gitter anstatt Fenster - Transsilvanien eben. Der Wind, der durch die Gitter dringt, sorgt häufig für das Erlöschen der Fackeln, doch dies scheint Dr. Krankenstein nicht zu stören.
"Igor, bist du bereit für den großen Test unseres Projekts?"
"Projekt IKEA geht doch eh schief, was sollen wir da groß testen?"
"Musst du immer so denken? Wir sind Wissenschaftler, wir müssen immer mehr und immer bessere Sachen erfinden."
"Na, wenn sie meinen, Meister."
"Und lass diesen Mist von wegen Meister sein."
"In Ordnung, Meister."
Der Doktor liest noch ein letztes Mal die Ergebnisse durch, die der Computer nach einer halben Stunde Ladezeit endlich ausspuckt.
"Igor, wir werden nun Projekt IKEA starten. Mach dich bereit."
Igor eilt zu einer menschengroßen Kapsel, steigt hinein und schließt die Tür.
Selbiges tut Dr. Krankenstein, drückt vorher jedoch noch den großen roten Knopf auf der Tastatur, auf der ‚TEST STARTEN' steht.
"Frank, denkst du wirklich, dass das funktioniert?"
"Natürlich Igor, das habe ICH ja auch erfunden."
"Genau deswegen mache ich mir ja Sorgen, Frank."
"Ach, da wird schon nichts passieren. Aber jetzt pass auf, es müsste jeden Moment losgehen. Immerhin hat der Computer bereits angefangen zu laden."
"Ja, wie er es immer tut, wenn man etwas will."
Einige Sekunden herrscht nun nahezu Stille. Nur das Rattern und Knacken des alten Computers ist zu hören, doch auch dieses Geräusch ist urplötzlich verschwunden.
"Igor, da ist etwas schief gelaufen", sagt Krankenstein nach einer Weile. "Geh bitte nachsehen, was da los ist."
"Natürlich, solange ich nur aus diesem Ding hier herauskomme."
Igor öffnet die Tür, steigt hinaus, läuft zu dem Computer und liest laut vor: "Windows 95 hat einen schweren Ausnahmefehler entdeckt. Das Programm wird beendet und ungespeicherte Dateien gehen dabei verloren."
"Was?", ruft Dr. Krankenstein aus seiner Kapsel.
Plötzlich fängt der Computer wieder zu rattern und klacken an und ein grelles Licht geht von den beiden Kapseln aus. Igor fällt vor Schreck bewusstlos um. Eine halbe Ewigkeit später wacht er mit brummendem Schädel auf und merkt, dass der Dr. immer noch in seiner Kapsel ist, sich jedoch merkwürdig bewegt - sogar für seine Verhältnisse.
Igor öffnet sofort die Kapsel, vernimmt jedoch nur ein leises Summen von seinem alten Freund. Langsam begreift Igor, dass etwas schief gelaufen sein muss. Er sieht sich um, ob alles in Ordnung ist, stellt aber zu seinem Entsetzen fest, dass der Computer vollkommen zertrümmert ist... Er sackt auf den Boden zusammen, während der Doktor weiter durch den ganzen Raum rennt und weiter summt.
Igor murmelt leise vor sich hin: "Er ist zu einem Computer geworden. Projekt IKEA - Im Körper eines anderen."

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Das erste Kapitel eines Romans (Leseprobe für Verlage)
Fabienne Froitzheim

Arbeitstitel: Muse

1
"Muse, ich warte!", schreit er, zornig auf den Boden hämmernd. Die Schreibmaschine zerbrochen. Sie liegt draußen im Swimmingpool. Kann aber nicht schwimmen, vermutlich. Im Swimmingpool vor der Glasveranda des Glashauses.
"Muse!"
Lauter und lauter. Die Nachbarn runzeln die Stirn, mehr schaffen sie ohne ihre Angestellten nicht, aber er darf sich das erlauben, er schon.
"Verdammtes .......!"
Die Kinder dürfen nichts merken, ab ins Bett.
"James, wären sie...."
"Ja, Ma´am."
"Danke."
Frau Bellini wendet sich von ihrem Butler ab und ihrem Versorger zu. "Darling, wie lange müssen wir das noch mit uns machen lassen? Schon jahrelang bekommt dieser Mann" - sie weist mit der Hand in Richtung des jetzt gegen die Hauswand hämmernden Bewohners des Nebenhauses - "wöchentlich seine Anfälle. Die Kinder werden auch langsam misstrauisch. Sollten wir..."
"Wir machen gar nichts!", herrscht sie ihr Gatte an. "Ich habe dir bereits erklärt, wie wichtig dieser Mensch für uns ist. Und lasse die Kinder ja nichts merken! Denk dir was aus! Verstand hast du zwar keinen, aber Phantasie."
"Aber..."
"Nichts aber. Lass mich meine Zeitung in Ruhe zuende lesen. Bitte!"
"Natürlich", murmelt Frau Bellinin kaum hörbar und begibt sich zur Tür. Ihr Mann erhebt sich aus seinem Sessel, legt die Zeitung beiseite und greift nach dem seit einiger Zeit immer auf dem gläsernen Sofatisch bereitliegenden Fernglas und setzt es an.
"Interessant..."
"Hast du etwas gesagt, Darling?"
"Nein, und geh endlich nach oben zu den Kindern!"
"Aber..."
"Nichts aber. Hast du mich nicht verstanden?"
"Doch, doch. Ich geh ja schon."
"Na endlich", stöhnt Herr Bellini und fährt fort, seinen Nachbarn, den alle in diesem Viertel nur als "den Stillen" kennen, zu beobachten.
"Der Stille" heißt eigentlich Tom Mondrian, doch um störende Fragen bezüglich seiner Verbindungen zu dem Maler Piet Mondrian zu vermeiden, sind seine Klingel sowie Briefkasten namenlos. Zwar muss er beinahe täglich zu der sechs Kilometer entfernten Poststelle fahren um sein dortiges Postfach zu leeren, doch diese Angelegenheit bereitet ihm mehr Freude als die ewige Fragerei.
Seit ungefähr neun Monaten wohnt der unter wechselndem Namen schreibende Drehbuchautor in der feinen Villengegend am Rande einer deutschen Großstadt. Er hätte sich nie träumen lassen ein solches Leben zu führen, doch vermutlich hatte er Glück, damals, kurz nach seinem Abitur. Meint er.
Aus Spaß schrieb er zu dieser Zeit ein Stück, das nur aus Dialogen seiner Freundin, Danielle hieß sie, und ihm bestand. Eine flüchtige Bekannte überredete ihn, das Manuskript an einen kleinen, noch unbekannten Verlag zu schicken, der es noch im selben Jahr veröffentlichte. Im selben Jahr wurde auch der kleine Verlag "Goldbamm" vom bedeutenden "Eisers Köln" aufgekauft. Und wie der Zufall es wollte, wurde der neue Chef, Herr Köhler, beim Durchsehen der unter Vertrag genommenen Autoren ausgerechnet auf ihn, den Neuen, Unbekannten, aufmerksam und machte ihn durch geschickte Promotion zu einem der bekanntesten Drehbuchautoren Deutschlands. Zufall?
In Louisenburg, dem kleinen, behüteten Villenviertel, weiß fast niemand, welch eine Persönlichkeit mit Mondrian in ihren Stadtteil zog. Da Mondrian jedoch die teuerste aller Villen erwarb, genießt er den Ruf des Mannes, der sich alles erlauben darf. Insofern werden die überall hörbaren, regelmäßigen Ausraster mit Diskretion behandelt: "Der Stille" könnte schließlich eine mächtige Person sein.

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Beerdigung
Ayla Önel
Thomas Irmer

Text Ayla Önel:
Herman ist tot. Heute ist seine Beerdigung.
Ich bin James, oder auch Jamie, oder Jimmy, oder - ach was weiß ich nicht noch. Sucht euch was aus.
Ich bahne mir den Weg nach vorne und setze mich gleich in die zweite Reihe.
Ich will ja schön nah beim Toten sein. Ein ziemlich junger Pastor erzählt in der Trauerkapelle die Lebensgeschichte des Verstorbenen. Die langweilige, inhaltslose Lebensgeschichte. Vielleicht ist er ja vor Langeweile gestorben.
Ich kenne solche Reden schon in- und auswendig. Geboren, nicht einen einzigen Traum verwirklicht, sich in diese verlogene Gesellschaft nahtlos eingefügt und gestorben.
Nach dem Trauergottesdienst gehen wir zum Essen. Essen ist gut, ich meine, ich mag essen. Jeder kann essen. Du vertrittst nicht irgendein soziales System, eine Religion oder deine Meinung, wenn du isst. Es ist nicht anstrengend. Jeder isst.
Ich bin Feige. Drücke mich. Will nicht zur Schau stellen, was ich wirklich denke. Nur in Gedanken bin ich ein Revolutionär.
Ich stelle mich zu zwei Frauen, die sich unterhalten. Die eine schaut gedankenversunken vor sich hin. Die andere ist ganz aufgedreht.
"Schrecklich, seine Kinder vor einem sterben zu sehen...oder? Augustine?"
"Ja...ja."
Ich sage: "Ja, aber wissen sie das denn nicht? Er hat sie umgebracht. Wenn er nicht tot wäre, säße er jetzt im Gefängnis," Ich lasse die beiden stehen. Sie halten mich für einen Verwandten.
"Schrecklich, wenn die Frau vor einem stirbt, nicht wahr?" sagt eine weitere Frau zu zwei Männern. "Ach, Mark, wir sind ja für dich da."
Wie albern. Alle sterben. Ob sie wollen oder nicht. Wir sterben um Platz zu machen. Platz für eine neue Generation von Versagern und reaktionären Revolutionsgegnern. Wenn wir sterben, erinnert sich doch eh niemand. Verlogenes Pack. Heute trauern sie, doch in einem Monat finden sie schon das Grab auf dem Friedhof nicht mehr.
"Er hat sie vergiftet", sage ich. "Wenn er nicht tot wäre, säße er jetzt im Gefängnis."
Ich gehe zum Buffettisch. Dort steht so ein Typ im Anzug, der sich für besonders toll hält. Wie kommt er darauf, dass er besser wäre? Vielleicht, weil wir die vermeindlich Cooleren, Intelligenteren, Besseren immer selbst auf einen Sockel stellen? Sind wir selber schuld?
""Er hat seinen Job verloren. Er war Spielsüchtig. Er ist nie zur Arbeit gegangen und selbst zu den anonymen Alkoholikern wollte er nicht, obwohl er es wirklich nötig gehabt hätte."
Der Schlipsträger schnappt sich seine Frau und geht. Glaubt mir alles, vertraut auf seine Umwelt. Wir sind außengeleitete Menschen. Aber wäre es nicht besser, wir würden keinem außer uns selbst vertrauen? Warum meinen wir, wir müssten uns immer von anderen den Weg zeigen lassen?
Nun werden sie ihren Verwandten nicht mehr so schnell vergessen. Ist dies nicht eigentlich das größte Verlangen des Menschen, nicht vergessen zu werden? Wenn wir uns schon nicht durch große Träume und Taten in die Gehirne der Menschheit gebrannt haben, sollten wir dann nicht wenigstens die Menschheit überraschen, wenn wir sterben? Mit einem riesigen Showdown das Zeitliche segnen? Ich habe nicht genug gelebt, weiß das. Ist das immer so? Fällt uns erst am Ende auf, was wir verpasst haben? Passiert deswegen nie was Neues? Es ist die Aufgabe der Alten zuzusehen, dass die Neuen leben, wie noch nie jemand gelebt hat. Sie sollen ihr Leben einzigartig machen. Unverwechselbar. Scheiße, habt ihr das gehört?
Er hat es nicht getan. War er je ein Kommunist, ein Punk oder ein Verrückter, der einfach nur seinen Mist durchgezogen hat? Nein. Hat sein Leben vergeudet. Wie ich. Habe die selben Fehler gemacht wie schon Generationen vor mir.
Wenn schon mein Leben nichts Besonderes war, so wird wenigstens meinen Tod niemand vergessen.
Ich ziehe eine Zeitung aus meiner Hosentasche.
Ich will noch jemanden unsterblich machen.

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Text Thomas Irmer:
"Wie soll sie denn eigentlich heißen, Frau Deutsch?"
"Wir haben uns überlegt sie Jennifer zu nennen."
"Jennifer? Ein schöner Name."
Dr. Scholz verließ das Zimmer und ließ die beiden - Verzeihung, die drei - in ihrem Moment der Freude allein.
"Sie sieht so friedlich und süß aus, findest du nicht, Schatz?"
"Oh doch, Darling. Sie ist wunderschön. Sie hat deine kleinen Ohren und deine süße Stupsnase"
"Aber dafür hat sie deine blauen Augen. Ich wette, damit kriegt sie später sämtliche Jungs rum."

Ein Jahr später.
Martin und Laura gingen bei Sonnenschein im Park spazieren. Nicht zu vergessen die kleine Jenny, die da in ihrem Kinderwagen lag und auf einem Schnuller herumlutschte. Es war warm und das glückliche Paar entschloss sich zu einem Eis.
"Also ich glaube, ich werde mal wieder ein Erdbeereis essen, das hatte ich schon lange nicht mehr. Und was soll ich dir mitbringen?"
"Ich hätte Lust auf ein Nusseis."
"Okay. Bin gleich wieder da."
Er gab seiner Frau einen Kuss und verschwand in der Eisdiele.
Was beide nicht wussten: Die kleine Jenny war allergisch gegen Nüsse aller Art.
"Schatz, glaubst du, Jenny mag Nusseis?"
"Ich weiß nicht. Lass sie doch probieren, dann werden wir's ja sehen."
Zwei Stunden später war Jenny tot.
Die Beerdigung war bereits am übernächsten Tag. Der Sarg stand offen vor dem Altar der kleinen Kapelle. Die Trauergäste gingen vorbei, um einen letzten Blick auf das Kind zu werfen. Nur die Eltern standen abseits; sie brachten es nicht über sich ihr verstorbenes Kind anzusehen. Dann folgte die Beisetzung. Es waren nur vier anstatt sechs Personen nötig, um den kleinen Sarg zum Grab zu tragen.
Als er abgestellt wurde um ein letztes Gebet zu sprechen, geschah etwas, was sich Laura und Martin bis heute nicht erklären können: Der Schrei eines Kleinkindes ertönte. Die Personen, die links vom Sarg standen, meinten, es käme von rechts - und die, die sich rechts befanden, sagten, es käme von links.
Schnell war man sich einig, dass es aus der Mitte kommen musste. Der Schrei kam aus dem Sarg!
"Macht den Sarg auf!", riefen Laura und Michael gleichzeitig. "Schnell!"
Man tat es. Was fand man vor?
Ein totes Baby.

Ein weiteres Jahr später fühlten sich Martin und Laura bereit für einen neuen Anlauf. Es war wieder Herr Dr. Scholz, der sie bei der Geburt ihres zweiten Kindes, diesmal war es ein Sohn, begleitete.
"Wie soll er denn heißen?"
"Leon. Wir haben uns für Leon entschieden."
"Leon? Ein schöner Name."
Der Doktor verließ den Raum.
"Diesmal hat er deine grünen Augen und meine riesige Nase."
"Ja. Und wenn er einmal groß ist, wird er auch so große Ohren haben wie du."

Ein weiteres Jahr später. Die kleine Familie ging zusammen spazieren um noch die letzten Sonnenstrahlen des Sommers aufzufangen. Als sie kurze Zeit später jeder ein Eis - sie Zitrone, er Erdbeer - in den Händen hielten, kam unwillkürlich die Erinnerung zurück. Aber es war ja Zitrone und Erdbeer, nicht Nuss. Sie hatten frühzeitig einen Allergietest machen lassen und es stellte sich heraus, dass auch Leon auf Nüsse allergisch war. Martin überließ seinem Sohn das Erdbeereis.
Zwei Stunden später war auch Leon tot.
Was die Eltern nicht wussten: Erdbeeren zählen zu den Nüssen.
Was jedoch noch viel erschreckender war: Auf der Beerdigung spielte sich das gleiche Szenario wie vor drei Jahren ab: Wieder ertönte ein Kinderschrei aus dem kleinen Sarg. Laura und Martin fielen gleichzeitig in Ohnmacht...

"Darling. Was ist los?"
Martin liegt verschwitzt auf dem Sofa. Seine Kleidung ist klitschnass.
"Ich habe furchtbar geträumt!"
"Was denn? Ich habe dich stöhnen gehört, da bin ich sofort
herbeigeeilt."
"Ich weiß es nicht. Ich kann mich bloß an einen entsetzlichen Schrei erinnern."
"Es ist alles gut", sagt Laura leise. "Du bist hier, bei uns. Wollen wir zur Ablenkung ein Eis essen gehen?"
"Sicher."
"Ich setze schnell noch Jenny in den Kinderwagen, dann geht´s los, o.k.?"
"Ist gut", sagt Martin, der sich allmählich aus den Fängen des bösen Traums befreit. "Weißt Du, ich hätte Lust auf ein richtig großes Nusseis..."

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